Am 24. Dezember 1942 beginnt die fünfzehnjährige Brigitte Eicke, Lehrling im Büro eines Kaufhauskonzerns in den Hackeschen Höfen in Berlin, Aufzeichnungen in einem kleinen Taschenkalender. Was als Kurzschriftübung beginnt, entwickelt sich zu einem ausführlichen Zeitdokument aus der Sicht eines jungen Mädchens. Sie schreibt über ihren Alltag in Berlin zwischen Prenzlauer Berg und Hackeschem Markt, von den Liebesbriefen von der Front, Küssen in dunklen Hausfluren, Zoff mit der Mutter, Luftschutzwachen, selbstgeschneiderten Kleidern und ausgelagerten Koffern, ihren Lektüren und Kinobesuchen, Bombenangriffen, den Heimabenden als BDM-Mädchen, bis zu Tänzen nach Grammophon und ihre Ausflüge nach Grünau oder zu den Verwandten jenseits der Oder. Zur selben Zeit fällt Stalingrad, werden die jüdischen Nachbarn abgeholt, Berlin zeitweise dreimal am Tag von Bombenflugzeugen angegriffen, erobert die Rote Armee die Stadt, ändert sich alles und gleichzeitig doch wenig. Aus dem BDM-Mädchen wird die Sekretärin im Antifaschistischen Jugendausschuss.
Das Ungewöhnliche ist, dass das Tagebuchschreiben für Brigitte Eicke nur Übung in Stenographie ist. Niemand soll das später einmal lesen, noch nicht einmal sie selbst. Eine Selbstzensur findet so gut wie nicht statt.
Ab Ende 1948, sie ist inzwischen verheiratet und bald schwanger mit ihrem ersten Kind, schreibt sie die Stenonotizen bis 31. Dezember 1945 auf der Schreibmaschine ab und formuliert sie aus – als Übung zur Verbesserung ihrer Anschlagzahl pro Minute. Dann verschwinden die Aufzeichnungen für ein halbes Jahrhundert in ihrem Bettkasten, bis sie das Typoskript in den neunziger Jahren für eine Ausstellung von Annett Gröschner und Grischa Meyer über das Kriegsende im Prenzlauer Berg wieder ans Licht holt. Das Tagebuch erscheint ungekürzt und ergänzt durch Glossar und Chronik der Herausgeber sowie ein Gespräch mit Brigitte Eicke über die Umstände der Entstehung des Tagebuches und ihr Leben danach.
Aus dem Tagebuch
1. Februar 44
Unsere Schule ist ausgebombt als wir hinkamen. Wir sind dann zu Gisela nach Hause gefahren und da haben wir nach Grammophon getanzt.20. April 45
Heute hat unser Führer Geburtstag, wir haben schon Angst vor den heutigen Tag. Fliegeralarm von ½ 10 – 12 Uhr mittags, das war die Gratulation. Man hört schon die Artillerie schiessen. Herr Dr. sagt, wenn wir uns auch in den nächsten Tagen nicht wiedersehen sollten, wir sollen vertrauen und keine Angst haben, der Führer macht ein Experiment und so ganz zum Schluss wendet sich doch alles noch zum Guten. Die Russen sind in Bernau. Jetzt zweifle ich wirklich bald an den Sieg, es ist alles furchtbar.2. Juli 45
Wir haben einen neuen Jugendleiter bekommen. Er ist ein wirklich fantastischer Mann. Um 4 zur Sitzung zur Schönhauser Allee. Es war grad für mich äusserst interessant. Ich habe den Eindruck, sie wollen dasselbe wie die Nazis, nur unter anderem Namen. Es wird das gleiche verlangt, das gleiche geredet. Sie sagen, die besten Jugendlichen im Arbeitseinsatz, die sich vorzüglich als Einsatzleiter eignen, sind immer wieder zum grössten Teil HJ-Führer. Das Wichtigste habe ich aufgeschrieben. Zu Hause habe ich ›Heimat‹ gelesen.
Lesung mit Annett Gröschner, Barbara Felsmann und Grischa Meyer: Backfisch im Bombenkrieg
Wann: Donnerstag, dem 26. September 2013, um 20 Uhr
Wo: Bibliothek am Wasserturm
im Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner
Prenzlauer Allee 227
10405 Berlin
Der Eintritt ist frei.